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Bei der Übersetzung eines Gedichts von Klabund bin ich auf eine Zeile gestoßen, deren Bedeutung mir nicht ganz klar ist. Das Gedicht lautet wie folgt:

Der Friede

Der Friede stürzt ins Land
Gleich einem Schaf, von Wölfen angerissen.
Er trägt ein grau Gewand,
Zerflattert und zersplissen.

Sein Antlitz ist zerfressen,
Sein Auge ohne Glanz.
Er hat vergessen
Den eignen Namen ganz.

Gleich einem alten Kind
(Gealtert früh in Harmen)
Steht er im Abendwind
Und bettelt um Erbarmen.

Es glänzt sein blondes Haar,
Der Sonne doch ein Teilchen.
Er bietet lächelnd dar
Ein welkes Herz und welke Veilchen.

Was bedeutet 'Harmen'? Ist es eine Stadt, eine Organisation oder etwas anderes. Leider geben weder das Wörterbuch noch Google eine klare Antwort. Ich entschuldige mich für mögliche Fehler: meine zweite Sprache ist Englisch.

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  • Grimm's deutsches Wörterbuch kennt das Verb "harmen" (auch: "harnen") für das Wasserlassen. Ich schreibe das nicht als Antwort, weil ich glaube, dass die Bedeutung nicht in den Kontext passt.
    – tofro
    Commented Apr 8, 2022 at 22:38

2 Answers 2

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Wenn Du englischsprachig bist, dann ist Dir harm ein Begriff (to do some harm, harmful, harmless).

Harm ist im Deutschen selten, aber in abgeleiteten Wörtern wie harmlos sehr präsent.

Gealtert früh in Harmen würde ich mit Gealtert früh in Schmerzen oder Leiden erklären, nicht unbedingt körperlichen Schmerzen.

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[English tranlsation below]

Es ist nicht ganz eindeutig. Harmen ist kein Wort, das zur Entstehungszeit des Gedichts üblich war.

Es ist der Teil einer Stadt, aber der Kontext des Gedichts schließt diese Interpretation aus.

Hier ist also dichterische Freiheit im Spiel. Die Interpretation, die mir am wahrscheinlichsten erscheint, ist dass Harmen hier die substantivierte Form eines Verbes harmen ("sich grämen") ist.

Im Gegenwartsdeutsch ist das Substantiv Harm ein veraltetes oder zumindest veraltendes Wort. (Die einzige mir noch bekannte Verwendung ist im Weihnachtslied Leise rieselt der Schnee.) Ansonsten ist es noch im Adjektiv harmlos ("unschädlich") präsent.

Das mittelhochdeutsche Verb harmen (alternative Form: härmen) ist im Gegenwartsdeutsch ausgestorben, aber noch in den Partizipialadjektiven verhärmt ("ausgezehrt") und abgehärmt ("von Kummer und Sorge gezeichnet") präsent.

Die Bedeutung von Harm und harmen passt gut in den Kontext des Gedichtes. Es ist also wahrscheinlich, dass Klabund hier ein altertümliches oder altertümelndes Wort entweder verwendet oder eingeführt hat. Hier eine altertümelnde Form im Rahmen der dichterischen Freiheit anzunehmen erscheint mir sehr plausibel. Die Reimform legt nahe, dass Harmen nicht nur wegen seiner semantischen Assoziationen, sondern auch wegen des Reims zu Erbarmen passend erschien. Auf der hermeneutischen Ebene widerspricht auch der Kontext des Gedichts der Deutung einer altertümelnden Sprachverwendung nicht.

Das Gedicht spielt ironisch mit einer Vertauschung von Krieg und Frieden, indem es als "Friede" bezeichnet, was sich als eine Beschreibung des Krieges herausstellt: "Der Friede stürzt ins Land"). Gleichzeitig wird in der zweiten Strophe deutlich, dass dieser Friede dem Frieden nicht mehr ähnlich sieht.

Das Gedicht weckt mit Form und Inhalt Assoziationen an Gedichte des Dreißigjährigen Krieges, etwa von Andreas Gryphius. Im Gedicht ist an anderer Stelle die Adjektivdeklination im Vers "Er trägt ein grau Gewand" altertümlich. Eine altertümelnde Sprachverwendung trägt dazu bei, dem Thema des Gedichts ("Der Friede") eine überzeitliche Bedeutung beizulegen und Assoziationen an den Kontext der deutschen Geschichte zu verstärken. Eine weitere Analyse des Werkkontextes von Klabund müsste erschließen, ob die altertümelnde Verwendung mit dem Stil des Autors harmoniert. Das zu leisten bin ich leider hier nicht im Stande, weil mir das Werk Klabunds im Großen und Ganzen unbekannt ist.

Für die grammatische Analyse ist festzuhalten, dass unter hier den Dativ verlangt, weil es hier soviel wie "unter dem Einfluss ...", "unter dem Eindruck von ..." bedeutet (wie etwa in unter Schmerzen). Es kommen damit folgende Formen in Betracht:

Es könnte sich um den Dativ Plural ode den Dativ Singular von Harm handeln, oder aber um den Dativ des substantivierten Verbes harmen.

Problematisch an der Interpretation von Harmen als Plural von Harm ist, dass Harm ein Singularetantum ist, ein Wort, dass keinen Plural hat.

Auch der Dativ Singular von Harm lautet im Gegenwartsdeutsch nicht Harmen, sondern Harm. Unter der Prämisse altertümelnder Sprachverwendung ist auch die Dativbildung im Mittelhochdeutschen zu betrachten: Im Mittelhochdeutschen lautete der Dativ Singular von harm wohl harme, andererseits gibt es wohl auch einen Beleg, in dem der Dativ Singular hermen lautet, sodass die Existenz eines Dativ Singular harmen im Mittelhochdeutschen zumindest nicht völlig auszuschließen ist.

Die Frage ist hier ja auch nicht so sehr, ob diese Formen im Mittelhochdeutschen existierten, sondern ob Klabund sie im Sinn gehabt haben könnte. Und dafür ist auch in Betracht zu ziehen, dass Harmen ein von Klabund selbst gebildete Dativ oder Pluralform sein könnte. Die Form wäre in diesem Fall zumindest ein regelrecht gebildet.

Schließlich könnte es sich auch um den Dativ Singular des substantivierten Verbes harmen handeln.

Die Interpretation von Harmen als Dativ Singular des substantivierten Verbs harmen ist in meinen Augen wahrscheinlichste Interpretation, weil sie mir am prämissenärmsten erscheint. Die grammatische Mehrdeutigkeit lässt sich aber nicht vollständig auflösen.

Unabhängig von der Frage, um welche grammatische Form es sich handelt, ist die Bedeutung, dass der Frieden unter Sorgen und Nöten ausgezehrt und alt geworden ist.


It is somewhat ambiguous. When the poem was written, Harmen was not a common word.

Harmen is a part of the town Haslach, but the context of the poem rules out that interpretation.

The use of the word Harmen is "poetic freedom". The interpretation most probable to me is that Harmen is the substantivized form of a verb harmen ("to grieve", "to feel sorrow and pain").

In recent German, the noun Harm ("sorrow") is outdated or at least becoming outdated. The only use of it that I know is in the christmas song Leise rieselt der Schnee. Besides that, it is still present in the word harmlos ("harmless").

The middle high German verb hamen (alternative form: härmen) does not exist any more in recent German, but it is still present in the participle adjectives verhärmt ("haggard") and abgehärmt ("careworn").

The semantics of Harm and harmen fit the context of the poem. It seems probable, that Klabund used or introduced an antiquated or antiquarianising word. The rhyme form of the poet suggests that Harmen was chosen not just because of semantic association, but alsoe because of the rhyme with Erbarmen. The context of the poem does not provide a contradiction to that interpretation:

The poet plays with the confusion of war and peace in an ironic and critical manner. It names as Friede ("peace") what it otherwise unmasks as war. For instance the verb ins Land fallen ("to invade the country") is a verb used only to describe war. The whole second stanza makes clear that it is war that is being talked about.

In style, tone and topic, the poem arouses associations to German poems from the period of Thirty Years' War, for instance poems by Andreas Gryphius. In another verse of the poem ("Er trägt ein grau Gewand"), the declination of the adjective is antiquated as well. Antiquising use of language contributes to a time transcending meaning of the poem and strengthens associations to the German history. As the poem speaks of the aged peace, this harmonizes with the content of the poem. A further analysis of the works of Klabund would have to investigate whether this antiquising use of language would contradict the style of the author. This work is out of scope for me here, because I am not familiar with the oeuvre of Klabund.

For the grammatical analysis, it is important to recognize, that Harmen must be a form in dative case here, because the preposition unter is used in a way (meaning "under the influence of ..." or "under the impression of ...") demanding dative here (similar as in unter Schmerzen or unter Drogen). That is why the following grammatical forms have to be considered:

Harmen could be a dative plural of Harm or a dative singular of Harm. It could also be the dative of the substantivized verb harmen.

Interpreting Harmen as plural form of Harm is problematic, because Harm has no plural form in German.

Assuming the dative singular form of Harm is possible, but not straight-forward: The dative singular of Harm is Harm in recent German. But as we are operating on the premise of antiquated use of language, we should also take the Middle High German noun harm and its declination into account: It is not clear, what the dative singular of harm was in Middle High German. I found in a dictionary that it is harme, but there also seems to be an ocurrence of hermen as dative form. So, the possibility that there was a dative singular form harmen cannot totally be ruled out. The relevant question here is not so much, whether it actually existed. It is more relevant, whether Klabund could have had something like this in mind. And this seems be possible, as both the plural form and the dative would be in accordance with the way a group of nouns is actually delined (compare: der Mensch, dem Menschen [dative singular], den Menschen [dativ plural]).

Finally, it could be the dative of the substantivized verb harmen. To me, this appears to be the most probable interpretation, because it comes with the least amount of premises.

But it is impossible to fully resolve the grammatical ambiguity.

Regardless of the gramatical form, the meaning is in any case, that peace got old and careworn under the influence of sorrows and grieve.

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