Die Briefanrede "Liebe(r)..." ist keineswegs, wie du in einem Kommentar gemeint hast, für die (vertraute) Kommunikation zwischen Eheleuten/Lebenspartnern, Verwandten und guten Freunden reserviert.
Es ist vielmehr eine "förmliche" Anrede im informellen Bereich, die durch zahlreiche Zusätze feinmoduliert werden kann, wie es dem tatsächlichen (auch tagesaktuellen!) Verhältnis der Kommunikationspartner entspricht. Eine weitere Rolle spielen der Anlass (die Kommunikationsabsicht) und das Medium (Brief oder Karte, Mail, SMS etc.).
- Lieber Markus! Liebe Eva!
ist die grundsätzliche Anrede zwischen Verwandten, Freunden, Bekannten, Bürokollegen, Vereinskollegen, Facebookfreunden etc., aber unter Umständen auch zwischen intimen Partnern. Wer hier Liebe(r) verwendet, macht keinen Fehler, ohne sich dabei viel denken zu müssen. Wenn man sich sonst per Hallo, Hi etc. anspricht, dann zeigt das formellere Liebe(r), dass man schon länger nichts voneinander gehört hat, dass ein Geburtstag ansteht oder man ein ernsteres Anliegen hat; in einem solchen Fall entschließt man sich vielleicht auch dazu, einen Brief statt einer Mail zu schreiben. Wenn sich Liebende, Ehe- bzw. Lebenspartner etc. mit Liebe(r) ansprechen, wo sie bisher Wendungen wie *Mein(e) Liebste(r)", "Hi du Süße(r)" oder was auch immer verwendet haben, ist wahrscheinlich Feuer am Dach.
2a. Lieber Herr Mustermann,
signalisiert eine eigenmächtige Annäherung des Schreibers gegenüber dem Adressaten. Aus irgendeinem Grund ist der Adressat in der schwächeren Position:
- Vorgesetzter gegenüber Untergebenem (in einem hierarchisch und
formell geführten Unternehmen)
- Auftraggeber gegenüber Auftragnehmer, meist mit geringerem Bildungsstand
- Nachbar, der einem anderen aus einem
bestimmten Grund die Höflichkeitsfloskel "Sehr geehrter" verweigert
- etc.
Es kommt vor, dass z.B. ein Uni-Professor einen anderen, den er zwar kennt, mit dem er aber nicht per Du ist, auf diese Weise anredet, und es kann vielleicht auch, das ist nur meine Vermutung, in anderen Chefetagen vorkommen. Nachweislich schreiben mittlerweile aber Studenten mit dieser Anrede an ihre Professoren. Es hängt sehr vom Ton und Inhalt der Nachricht ab, ob das bloße Formlosigkeit, eine Respektverweigerung oder eine neutrale gemeinsame Basis impliziert. Normalerweise w��rde man den Titel einfügen.
2b. Guten Tag, liebe Frau Reisig! Hallo lieber Herr Giese!
Das Anfügen einer Grußformel gibt der Anrede einen freundlichen, informellen Ton ohne die Grenzüberschreitung von 2a. Solche Anredeformeln findet man z.B. oft bei beruflichen Erstkontakten zwischen Filmschaffenden.
2c. Liebe Marianne Huber, ...
signalisiert einen Statusunterschied (z.B. Uni-Lehrer gegenüber einem Studenten), wirkt etwas dürr und "auf den Punkt kommend", aber nicht übergriffig.
- Sehr geehrte Frau Institutsvorständin, liebe Susanne!
schreibt man (zumindest in Österreich) in einer beruflichen Mitteilung an Höhergestellte, mit denen man gleichzeitig befreundet ist. Genannt werden dabei nur Funktionsbezeichnungen, nicht der/die Titel.
Lieber, sehr geehrter Herr X!
ist eine sehr interessante Formel. Das "Lieber" betont Respekt und ein (gewünschtes) besonderes Verhältnis dir gegenüber in einer ansonsten formelhaften allgemeinen Anrede, das "sehr geehrter Herr X" relativiert das "lieber" im Sinn eines korrekten Verhältnisses zwischen Geschäftspartnern. Du musst keinesfalls Bedenken haben, der Frau "zu nahe" zu kommen, wenn du "Liebe Frau Y" schreibst, aber genauso wenig ist es unhöflich, nur "Sehr geehrte Frau Y" zu schreiben, vor allem, wenn du Kunde bei der Firma bist. Auch hier hängt es natürlich wieder vom Ton und vom Inhalt des Schreibens ab, ob die Anrede plump vertraulich oder abkühlend wirkt.
Man darf nicht vergessen, dass die Schlussformel genauso wichtig ist wie die Anrede und beide zusammen eine Einheit bilden, was die Aussage über Verhältnis, Intimität, aktuelle "Wetterlage", Anliegen bzw. Anlass etc. betrifft. Für Geschäftsbriefe ist "Mit freundlichen Grüßen" das Minimum, das man durch eine "lebendigere" Formel vorteilhaft aufhellen kann.